Wie wir hierher gekommen sind

 

Cory Doctorow hat für diesen Prozess einen Begriff geprägt: Enshittification.
Er meinte damit, wie Tech-Plattformen systematisch schlechter werden: Erst gut für User,dann gut
für Business-Kunden, am Ende gut für niemanden mehr (außer die Plattformen selbst).
Die Plattform-Enshittification hat direkt zur Marketing-Enshittification geführt:

Phase 1: Die Plattformen locken uns an. Facebook, Instagram, LinkedIn – alle haben am Anfang das Gleiche versprochen: „Postet organisch, erreicht eure Community, baut Beziehungen auf.“ Organische Reichweite war real. Content Marketing funktionierte.
Marken konnten tatsächlich mit Menschen sprechen.

Phase 2: Die Plattformen drehen am Algorithmus. Organische Reichweite? Von 10-15% auf 1-2%. Plötzlich sehen eure Follower euren Content nicht mehr, obwohl sie euch folgen. Die Lösung der Plattformen: „Postet mehr! Seid konsistenter! Drei Posts am Tag!“ Oder, noch besser: „Kauft Ads.“ Aus organischem Marketing wurde Paid Media mit organischem Anstrich.

Phase 3: Marketing gerät in den Hamsterrad-Modus. Ihr produziert jetzt das Zehnfache an Content – nicht weil ihr was zu sagen habt, sondern weil der Algorithmus es verlangt. Gleichzeitig steigen die Ad-Kosten. Das Budget bleibt gleich. Also: Mehr Output, weniger Qualität. Mehr Masse, weniger Klasse.

Phase 4: Alle verlieren. Die Plattformen sind voll mit generischem Kram, den niemand sehen will. User sind genervt und scrollen schneller. Marken verschwenden Ressourcen auf Content, der nichts bringt. Und mittendrin: Ihr, die ihr versucht, mit Spreadsheets und KPIs irgendwie zu beweisen, dass dieser ganze Wahnsinn Sinn ergibt.

Das ist keine Marketing-Krise. Das ist eine strukturelle Falle.

Im WARC-Report „Creative Impact Unpacked“ zu den Cannes Lions 2025 gibt es ein ganzes Kapitel zur „Unshittification“ – die Branche hat erkannt: So geht es nicht weiter. Das Kapitel fokussiert sich zwar primär auf die Customer-Experience-Seite – nämlich darauf, wie Marken die Lücke zwischen Marketingversprechen und tatsächlicher Erfahrung schließen können. Aber die Diagnose ist dieselbe: Wenn Marketing nur noch für Algorithmen statt für Menschen gemacht wird, werden die Kommunikation und die Experience schlechter.

Die Forschung im Report zeigt, dass mittelmäßige Kreation in schlechten Werbeumfeldern die Industrie 198 Milliarden Dollar kostet
– 43 Cent pro ausgegebenem Dollar gehen verloren. Gleichzeitig performen die kreativsten Unternehmen bei Cannes Lions messbar besser: 2,7% höherer EBIT, 4,7% höhere Marktkapitalisierung. Wenn selbst die Effectiveness-Leute mit harten Zahlen beweisen, dass Masse nicht funktioniert und Qualität der einzige Weg ist, dann sollten wir aufhören, uns hinter Algorithmen zu verstecken

Was sich ändern kann (und sollte)

 

1. Qualität als Reichweiten-Strategie

Die Plattformen haben uns konditioniert zu glauben: Mehr = besser. Die Realität zeigt: Mehr = unsichtbar.

Was funktioniert:
Marken wie Liquid Death oder Duolingo zeigen, dass 12 wirklich gute Aktionen im Jahr mehr Impact haben als 300 mittelmäßige Posts. Nicht weil sie mehr Budget haben, sondern weil sie verstanden haben: Menschen teilen das Außergewöhnliche, nicht das Erwartbare.

Was das bedeutet: Weniger produzieren. Dafür besser. Dafür memorabler. Dafür teilenswert – ganz ohne Media-Budget.

2. Sprache, die nach etwas klingt
Die gute Nachricht: Wir müssen nicht mehr klingen wie Pressemitteilungen. Die schlechte: Viele tun es trotzdem noch.

Statt: „Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass unsere neue Produktrange die Bedürfnisse anspruchsvoller Konsument:innen adressiert.“

Könnte da stehen: „Haben wir gemacht, weil das alte langweilig war.“ Menschen schreiben für Menschen. Nicht Marken für Zielgruppen.
Der Unterschied ist spürbar – und messbar.

3. Kreative Courage als Wettbewerbsvorteil
Die besten Ideen entstehen nicht im Konsens von acht Stakeholdern. Sie entstehen, wenn jemand den Mut hat zu sagen: „Vertraut mir“ – und die Organisation den Mut hat, das zu tun.

Was sich ändern muss:
Nicht jeder Approval-Schritt macht die Arbeit besser. Manche machen sie nur sicherer.
Aber „sicher“ ist 2026 das größte Risiko. Weil „sicher“ unsichtbar ist.

4. KI als Werkzeug, nicht als Ausrede
KI kann viel. Texte schreiben. Bilder generieren. Research beschleunigen. Was KI nicht kann: Eine Haltung entwickeln. Verstehen, was Menschen wirklich bewegt. Den Mut haben, etwas Kontroverses zu machen.

Die Chance: Nutzt KI für repetitive Arbeit, die Zeit frisst, aber wenig bewegt. Investiert die gewonnene Zeit in das, was wirklich zählt: Denken. Strategie. Kreativität. Die Dinge, die echten Impact haben.

Was Agenturen jetzt tun können
Die Rolle von Agenturen verändert sich gerade fundamental. Die Frage ist: Von Dienstleister zu Partner – oder von ersetzbar zu relevant?

Partner machen dies:
• Sagen „Nein“ zu Briefings, die nichts bringen werden
• Verkaufen Ideen, keine Stunden
• Stellen Teams zusammen, die widersprechen können
• Verdienen ihr Geld mit Impact, nicht mit Output

Die Chance: Kunden brauchen genau das. Mehr als je zuvor. Sie brauchen jemanden, der sagt: „Das Briefing ist falsch“ oder „Diese Kampagne wird nicht funktionieren“ oder „Lasst uns weniger machen, dafür richtig.“

Konkrete nächste Schritte

 

Für Marken:
Der erste Schritt ist, zu definieren, was „gut“ ist – nicht was „genug“ ist. Gebt eurer Agentur Raum für unabhängiges Denken. Fragt bei jedem Projekt: „Würden wir das selbst konsumieren wollen?“ Und wenn die Antwort „Nein“ ist, dann streicht einen Approval-Schritt. Dann noch einen. Die besten Ideen sterben nicht an fehlender Qualität, sondern an zu vielen Sicherheitsschleifen.

Für Agenturen:
Hört auf, Content-Pakete zu verkaufen, die nur existieren, weil „der Algorithmus das will“. Präsentiert eine starke Idee, nicht sechs zur Auswahl. Macht den Business Case für Qualität statt Quantität – die Zahlen sind auf eurer Seite. Und stellt die Leute ein, die Fragen stellen, nicht die, die nicken. Unangenehme Wahrheiten sind unbequem, aber sie sind auch das, wofür Kunden euch eigentlich bezahlen.

Für alle:
Schaut, was außerhalb der Marketing-Bubble passiert. Lernt von Marken, die es anders machen und erfolgreich sind. Experimentiert. Testet. Scheitert auch mal – das ist billiger als Irrelevanz. Und dokumentiert, was funktioniert und warum. Nicht für den nächsten Award, sondern weil echtes Lernen nur durch Reflexion entsteht.

Warum das eine Chance ist

 

Die Enshittification der Plattformen ist komplett. Sie haben ihre Versprechen gebrochen: Organische Reichweite gibt es nicht mehr, Algorithmen diktieren Sichtbarkeit, Ad-Kosten steigen. Die Plattformen selbst sind die einzigen Gewinner.

Aber genau das ist die Chance: Die alten Regeln gelten nicht mehr. Wir können neue schreiben.

Was möglich wird:
• Marken können wieder eine Stimme haben, nicht nur eine Posting-Frequenz.
• Echte kreative Ideen werden wieder wichtiger als die schiere Menge an produziertem Content.
• Kleine Teams mit guten Ideen können mehr bewegen als große Budgets mit mittelmäßigen Ideen.
• Langfristiger Markenaufbau wird wieder wichtiger als kurzfristige Performance-Metriken.

Die realistische Prognose

 

Nicht alle werden das verstehen. Nicht alle werden mitgehen.
Viele werden 2026 weitermachen wie 2025. Und 2027 sich fragen, warum andere erfolgreicher sind.

Aber einige – die richtigen – werden es verinnerlichen. Die werden weniger machen. Besseres machen. Mutigeres machen.

Und in zwei Jahren werden sie die Case Studies schreiben, die andere kopieren wollen. Das ist die Chance der Unshittification: Früh dabei sein. Anders sein.

P.S.: Das ist kein Aufruf zur Revolution. Das ist ein Angebot zur Evolution. Marketing kann wieder gut werden. Relevant. Wirksam. Es braucht nur den Mut, aus alten Mustern auszubrechen – und die Bereitschaft, neue auszuprobieren.

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