Die Kommunikationsbranche bringt fortwährend neue Buzzwords hervor, um die eigene Arbeit zu beschreiben und auch fortzuschreiben. Seit einigen Jahren hat das Narrativ als Mittel der Kommunikation eine steile Karriere hingelegt. Es ist in mancher Hinsicht der Nachfolger des Storytelling, geht aber deutlich darüber hinaus. Wörtlich bedeutet Narrativ nichts anderes als Erzählung. Darin klingt jedoch an, was der französische Philosoph Jean-François Lyotard die „großen Erzählungen“ der Moderne über Freiheit, Aufklärung und Wissenschaft genannt hat.

Im Agenturgeschäft haben wir es normalerweise eine Nummer kleiner. Jedoch knüpft das, was wir mit dem Begriff Narrativ meinen, gerade an die großen Themen unserer Zeit an. Die Frage nach dem Purpose, auch so ein Buzzword und mit „Daseinszweck“ nur unzureichend übersetzt, beschäftigt viele Marken und Agenturen aus denselben Gründen. Es muss etwas geben, was uns jeden Morgen aufstehen lässt, und das sollte mehr als der reine Profit zum Selbstzweck sein. Geld macht nicht glücklich.

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Ein Narrativ ist also eine Story, mit der wir Sinnfragen beantworten. Es hat eine erzählerische Struktur über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, eine Dramaturgie, ausgestattet mit Helden und deren Antagonisten, den Anti-Helden. Ein Narrativ verlangt danach, weitererzählt zu werden. Im Bereich Social Media sprechen wir von „Shareable Content“. Es ist komplexer als die „Simple Message“ in den reduktionistischen Modellen des klassischen Plannings.

Im Zeitalter der Massenkommunikation und der Unterbrecherwerbung waren wir zu solchen Vereinfachungen gezwungen, weil mehr eben nicht in einen 30-Sekünder passte. Zwar ist die Aufmerksamkeitsspanne heute eher noch kürzer geworden, aber zum Ausgleich dafür ist sehr viel Platz in der Nische entstanden. Siehe zum Beispiel dieser Podcast, in dem wir uns etwa 60 Minuten über spitze Themen für eine spitze Zielgruppe unterhalten. Die Explosion der Kanäle und Formate in den digitalen Medien führt dazu, dass wir Narrative besser transportieren können.

Narrative finden, nicht erfinden

 

Gelungene strategische Narrative gab es jedoch auch schon vor dem Web. Ein gutes Beispiel kommt wieder einmal von Apple. Der legendäre 1984-Spot zur Einführung des Macintosh funktionierte mit einem klaren Gegner: IBM, überhöht als Orwells Big Brother, und die Langweiligkeit der Welt als Gegenpol zur Apple-Community, die für Kreativität und für die Misfits stand, die sich der Anpassung verweigern. Dieses Narrativ, fortgeschrieben in weiteren Kampagnen, wirkt auch 40 Jahre später und prägt die Marke Apple bis heute.

In Folge #119 habe ich mit Ralf Schmidt-Bleeker über das gesprochen, was er „strategische Narrative“ nennt. Zusammen mit Frank Otto Dietrich hat er 2012 Waald gegründet, einen Hybrid aus Agentur und Beratung, der strategische Narrative für Wirtschaft, Politik und Kultur entwickelt. Neu und gut an Narrativen ist aus seiner Sicht die authentische Basis, im Gegensatz zu einer Story, die komplett fiktiv und völlig abgelöst von der Realität sein durfte. Man findet Narrative, man erfindet sie nicht.

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Umgekehrt bringt der inflationäre Gebrauch des Begriffs, den schon Jan Böhmermann in einem Podcast mit Olli Schulz gegeißelt hat, auch Probleme mit sich. So wird manches als Narrativ bezeichnet, was nicht mehr als eine Story oder eine Ausformulierung des Markenkerns ist. Ein strategisches Narrativ weist darüber hinaus auf gesamtgesellschaftliche, große Fragestellungen und gibt darauf Antworten.

Waald nennt das Cause, man könnte es auch Purpose oder Why nennen. Im Zeitalter der nachhaltigen Transformation ist es häufig ökologisch, zum Beispiel auf den Klimawandel bezogen, kann aber auch hedonistisch sein. Es drückt sich aus in eigenen Semantiken, die sich oft gerade nicht in Pressemitteilungen und Talking Points wiederfinden.

Der erzählende Affe

 

Die erstaunliche Karriere des Begriffs begann als Instrument des Storytellings innerhalb von Kommunikationsmaßnahmen wie Kampagnen, die Geschichten mit narrativen Qualitäten erzählen. In der zweiten Stufe kommt die Markenführung dazu mit dem Ansatz, statt Produkt und Kampagne nun die Marke selbst narrativ zu gestalten. Das Narrativ ersetzt hier Modelle wie Markensteuerräder, Markenkern oder Positionierung. Statt Ordnung zu schaffen, geht es darum, Bedeutung zu erzeugen.

Die dritte Stufe beginnt mit Wandel und Transformation innerhalb der Organisation, die kommunikativ mit einem Narrativ begleitet werden. Hier geht es bereits über das Marketing hinaus ins Business und in die Organisation: Strategie als Erzählung. Wie erzählen wir unsere Strategie? Die Königsdisziplin ist schließlich die vierte Stufe, wenn die Erzählung – das Narrativ – selbst als Strategie verstanden wird. Das Unternehmen trifft dann strategische Entscheidungen nicht mehr allein von der Excel-Tabelle aus, sondern aus dem Narrativ heraus.

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Hier schließt sich dann der Kreis zum Markt, wenn Sinnstiftung nicht nur in die Organisation hinein stattfindet, sondern auch nach außen. Menschen finden das Narrativ spannend und erzählen es weiter, Medien greifen es auf. Es funktioniert für das Business nach innen und ist medial anschlussfähig. Dahinter steckt eine anthropologische Einsicht: Menschen brauchen Erzählungen, um sich in der Welt zurechtzufinden. Menschen sind, so haben es Samira El Ouassil und Friedemann Karig in ihrem gleichnamigen Buch beschrieben, „erzählende Affen“.

Unser Gehirn ist so strukturiert, dass Narrative anschlussfähig sind. Auf dem Weg über Erzählungen geben wir überlebensnotwendige Erfahrungen und Erlebnisse weiter. Deshalb sind Narrative notwendigerweise nicht statisch, sondern entwickeln sich weiter. Es ist aber eher ein Fortschreiben, weil neue Erkenntnisse und Erfahrungen dazukommen.

Ein neues Narrativ für die Branche

 

Im Kern funktionieren Narrative langfristig als Fundament für Marken, ähnlich wie eine Kommunikationsplattform (um ein anderes Buzzword aufzugreifen). Das unterscheidet sie von der oft als agil verbrämten, taktisch orientierten und von FOMO (fear of missing out) getriebenen Kurzfristigkeit.

Narrative antworten auf die Sehnsucht nach langfristiger strategischer Markenführung, indem sie eine Dramaturgie aufbauen. Neben den Protagonisten haben darin auch die Antagonisten ihren Platz. Wo besteht ein Mangel, und wo sind die Gegenkräfte, die uns daran hindern, diesem Mangel abzuhelfen? Hier kann eine Kommunikationsplanung aufsetzen, die dann wieder Kampagnen steuern kann. Die Erzählung bekommt Tiefe und eine zeitliche Struktur.

Das Wichtigste, was unsere Branche leistet, ist Differenzierung. Vielleicht braucht die Agenturbranche selbst ein neues Narrativ – eine neue Antwort auf die Frage, was wir für die Gesellschaft leisten und wie wir in der Sinnökonomie anschlussfähig bleiben. Dazu gehört, dass wir uns nicht auf die Kreativseite beschränken, sondern uns stärker mit dem Business auseinandersetzen. Dass wir Marketing nicht länger losgelöst von anderen Bereichen wie zum Beispiel Produkt- und Serviceentwicklung betrachten.

Die Aufgabe der Agenturen ist es, Antworten zu liefern. Narrative antworten auf die Fragen der Zeit.

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Kontakt

Noah Charaoui

Recruiter
talents@knsk.de