Markenführung in der KI-Ära: Worauf es künftig ankommt
Marken sind keine Erfindung von Marketingabteilungen. Sie existieren, seit Menschen Handel treiben. Schon in der Antike kennzeichneten Handwerker ihre Produkte, um Herkunft und Qualität sichtbar zu machen.
Im Industriezeitalter wurde die Marke zum Differenzierungsinstrument. Später zum Symbol für Lifestyle, Haltung und Zugehörigkeit. Heute sind Marken Plattformen, die Dialoge ermöglichen und Werte transportieren.
Doch jetzt stehen wir an einer Schwelle: Künstliche Intelligenz verändert die Regeln. Vieles, was Markenführung über Jahrzehnte geprägt hat, lässt sich plötzlich automatisieren. Inhalte entstehen auf Knopfdruck, Kampagnen optimieren sich selbst, Zielgruppen werden in Echtzeit adressiert. Mark Zuckerberg geht noch weiter: Seine Vision ist eine Zukunft, in der Unternehmen nur noch Ziel und Budget angeben und KI macht den Rest.
Klingt nach dem Ende von Markenführung. Tatsächlich ist es ihr Stresstest.
Kim Notz
23. September 2025
Experience: Vom schönen Moment zum lernenden System
„Customer Experience“ ist kein neues Wort. Aber KI hebt sie auf eine andere Ebene.
Bisher war Experience eine inszenierte Reise: Kampagnen, die auf alle gleich wirkten. Websites, die nach demselben Muster funktionierten.
Mit KI wird Experience radikal personalisiert. Jede Interaktion kann sich unterscheiden:
Der eine bekommt einen humorvollen Ton, die andere eine sachliche Ansprache.
Angebote, Visuals, sogar ganze Services passen sich in Echtzeit an.
Damit wird Experience zu einem lernenden System – ständig im Fluss, nie gleich.
Genau deshalb braucht es Markenführung. Nicht um das System zu kontrollieren, sondern um Leitplanken zu definieren: Welche Werte bleiben unverrückbar? Welches Gefühl soll trotz aller Variation entstehen?
Ohne diesen Rahmen droht Experience beliebig zu werden – perfekt personalisiert und gleichzeitig vollkommen austauschbar.
Authentizität wird zum Luxusgut
Wenn KI alles inszenieren kann, wächst die Sehnsucht nach dem Echten. Authentizität ist schon länger ein starkes Differenzierungsmerkmal. Im KI-Zeitalter wird sie zur Voraussetzung. Was früher als sympathischer Bonus galt, wird jetzt zur Überlebensstrategie.
Authentisch ist nicht, wer möglichst menschlich wirkt, sondern wer transparent bleibt.
Wo kommt das Produkt her? Wie entsteht es? Wo wird KI eingesetzt – und warum?
Wer diese Fragen offen beantwortet, gewinnt Vertrauen.
In einer Welt, in der jede Marke technisch in der Lage ist, mich perfekt anzusprechen, ist nicht mehr die Qualität der Inszenierung entscheidend, sondern die Glaubwürdigkeit des Kerns.
Wenn KI perfekte Fake-Realitäten erschaffen kann, wird das Echte zum ultimativen Premium-Feature. Aber: Authentisch ist nicht, wer perfekt wirkt, sondern wer unverwechselbar ist. Marken, die nicht gefällig klingen, sondern eine erkennbare Stimme haben. Marken mit Eigenheiten, die man liebt oder ablehnt, aber nie ignoriert. Mit Geschichten, die sie nicht kopieren, sondern nur selbst erzählen können. Der Unterschied wird nicht mehr über polierte Oberfläche entschieden, sondern über gelebte Substanz. KI kann jedes Stilmittel nachahmen, aber keine Intuition entwickeln. Sie kann Trends analysieren, aber keine Vision haben. Sie kann Interaktionen optimieren, aber keine Beziehung aufbauen. Deshalb werden die stärksten Marken der Zukunft die sein, die ihre menschliche Einzigartigkeit als Superkraft verstehen. Und Haltung zum einzigen Unterschied, den man nicht programmieren kann.
Wenn die Marke selbst KI ist
Die vielleicht spannendste Frage lautet: Was, wenn die Marke selbst KI-generiert ist?
Wenn sie nicht nur Tools nutzt, sondern als System existiert, das sich in Echtzeit hyperpersonalisiert?
Dann gibt es nicht mehr die eine Marke. Sondern Millionen individueller Versionen.
Klassische Markenführung, die auf Konsistenz setzt, greift hier nicht mehr.
Die Aufgabe verschiebt sich: weg vom Sichern äußerer Einheit, hin zum Definieren eines inneren Kompasses. Markenführung heißt dann, Prinzipien und Werte so klar zu setzen, dass sie auch durchscheinen, wenn alles andere variiert. Nicht Starre schafft Wiedererkennbarkeit, sondern Haltung.
Zuckerbergs Vision: Bedrohung oder Befreiung?
Zuckerbergs Szenario – Ziel rein, Budget rein, Ergebnis raus – entwertet Routine. Agenturen, die heute noch mit Mediaplänen und Kampagnenabwicklung beschäftigt sind, verlieren an Bedeutung.
Aber es ist auch eine Befreiung. Denn wo Technik übernimmt, bleibt Raum für das, was Maschinen nicht können: Sinn geben. Verantwortung übernehmen. Haltung zeigen.
Markenführung wird damit nicht überflüssig, sondern relevanter. Sie entscheidet nicht mehr über das „Wie“ einer Kampagne, sondern über das „Warum“ dahinter. Über das, was bleibt, wenn Technologie alles andere angleicht.
Der historische Faden
Vielleicht hilft es, die Perspektive zu weiten. Marken sind immer dann entstanden, wenn Menschen Orientierung brauchten:
• Im Handel der Antike als Garant für Echtheit.
• In der Industrialisierung als Versprechen von Qualität.
• In der Konsumgesellschaft als Symbol für Lebensstil.
• In der Globalisierung als Plattform für Dialog und Werte.
Heute, in der KI-Ära, brauchen Menschen wieder Orientierung.
Nicht weil Produkte fehlen, sondern weil sie im Überfluss der Möglichkeiten untergehen.
KI kann alles berechnen, aber sie beantwortet nicht die Frage: Wofür stehen wir eigentlich?
Genau hier beginnt Markenführung neu.
Was daran neu ist? Nicht die Vokabeln. Sondern der Kontext, in dem sie zählen. Haltung, Authentizität, Klarheit – das war nie falsch. Aber jetzt ist es alternativlos. Weil KI alles inszenieren kann, wird das Echte zur einzigen Unterscheidung. Weil alles skalierbar ist, wird das Unverwechselbare zur letzten Bastion. Und weil Technologie alles angleicht, wird der menschliche Kern zur strategischen Superkraft. Markenführung wird nicht ersetzt, sie wird neu kalibriert.